“Oben bleiben?” oder “Tiefer legen?” – diese Frage veränderte das Land Baden-Württemberg von Grund auf: Menschen unterschiedlichster Schichten, Altersgruppen und weltanschaulicher Zugehörigkeiten gingen gemeinsam auf die Straße, entfalteten ungeahnte Energien und Kreativität, um Ihre Meinung kundzutun.
In ihrem Dokumentarfilm spannen die Stuttgarter Autorinnen Böller und Brot alias Sigrun Köhler und Wiltrud Baier einen Bogen von der großen Demonstration im Stuttgarter Schlosspark am 30. September über die Schlichtungsverhandlungen bis hin zur Landtagswahl im März 2011.
Am 30.9.2010, dem „schwarzen Donnerstag“, wird mit einem robusten Polizeieinsatz die Baustelle für den neuen Tiefbahnhof im Stuttgarter Schlosspark geräumt. Zahlreiche Bürger werden verletzt, einer verliert das Augenlicht. Bis dahin war der Protest gegen das „neue Herz Europas“, wie der geplante Tiefbahnhof in der Werbung heißt, ein Protest mit sommerlichem Event-Charakter. Aber spätestens seit diesem 30.9. ist Stuttgart Dauerthema in den Medien.
Der Bürger-Protest ist so vielseitig wie die Bürger selbst: Dem einen geht es um die Zerstörung des denkmalgeschützten Bahnhofs, dem anderen um die Gefährdung der berühmten Stuttgarter Mineral- und Heilquellen, der Verschwendung von Milliarden Steuermittel, Verflechtung von Wirtschaft und Politik, Zerstörung des Stuttgarter Schlossgartens, Fällen alter Bäume, Untertunnelung einer ganzen Stadt, zehn Jahre Baustelle in der Stadt, Immobilienspekulation, und und und. Jeder hat seine ganz persönlichen Gründe, gegen den Bahnhofsbau zu sein. Allen Kritikern gemeinsam ist die Empörung über die Repräsentanten einer Politik, die sich nicht mehr für die Belange der Bürger zu interessieren scheint.
Ministerpräsident Mappus, Ministerin Gönner, Oberbürgermeister Schuster, sie alle werden trotzdem nicht müde, von Zukunft, Baurecht oder städtebaulicher Chance zu sprechen, obwohl das schon seit Jahren niemand mehr hören will. Die Bebauung/ Planungen für das bereits leere Grundstück hinter dem Bahnhof erwecken den Eindruck einer amerikanischen Downtown aus den 90er Jahren, mit Bankentürmen, Shopping-Center, Luxuswohnungen und einer Bücherei, die aussieht wie ein riesiges Gefängnis.
In Stuttgart, dieser ehemals beschaulichen Stadt der Reben und sanften Hügel, weht plötzlich ein anderer Wind: Schwaben aller Schichten, Altersgruppen, weltanschaulicher Zugehörigkeiten sprechen auf der Straße miteinander, und sie sprechen nicht nur, sie diskutieren oft bis in die Nacht. Nur der Dialog mit der Politik funktioniert noch nicht so gut. Heiner Geißler soll die Verstimmung zwischen Bürger und Regierung schlichten, was als „Demokratieexperiment“ für gewaltigen Medien-Rummel sorgt, endet mit einem königlichen Schlichterspruch, der alles und nichts bedeuten kann.
Im Untersuchungsausschuss des Landtags wird, wie in einem Gericht, der Frage der Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes vom 30.9. nachgegangen. Die Stuttgarter Prominenten der Protestbewegung, Frau Klausmann-Sittler und der Theaterregisseur Volker Lösch, werden verhört, aber auch verantwortliche Polizeibeamte und die Minister Gönner, Rech und Herr Mappus höchst selbst. Am Ende kommt sogar die Kanzlerin, deren Cousine angeblich Parkschützerin ist, um im Wahlkampf zu helfen.
Die Filmemacherinnen, selbst Stuttgarter Bürgerinnen, besser bekannt als „Böller und Brot“ haben in dem halben Jahr vom „Schwarzen Donnerstag“ bis zur Landtagswahl den Prozess um Stuttgart 21 mit der Kamera begleitet und viel gelernt: zum Beispiel, was Stuttgarter Pflastersteine sind, warum Gipskeuper aufquillt oder wie ein professionelles Blockadetraining funktioniert. Sie tauchen in verschiedene Situation des Protestes für und gegen den Bahnhofsbau ein, lernen neuartige Grußworte wie „Oben Bleiben!“ und eine überraschende Variation der Bedeutung von „Oben Ohne!“ kennen, sie werden am 30.9. mit ihrer Kamera vom Wasserwerfer abgeschossen, erfahren, dass „Baustopp“ ein Begriff von vulkanischer Bedeutung sein kann, sehen die Lichtgestalt Heiner Geissler kommen und gehen, eine Zelt-Stadt im Stuttgarter Schlossgarten wachsen, einen Bauzaun ins Museum kommen, und einen historischen Wahlsieg der Grünen. Aber das Leben ist kein Film, der Streit um Stuttgart 21 geht weiter.
ALARM AM HAUPTBAHNHOF – AUF DEN STRASSEN VON STUTTGART 21
Dokumentarfilm von Sigrun Köhler und Wiltrud Baier
Deutschland 2011, 90 min, HD
PRODUKTION
INDI FILM, Böller und Brot und SWR/ARD
FÖRDERUNG
MFG Filmförderung Baden-Württemberg
FESTIVALS & PREISE
Filmschau Baden-Württemberg 2011
Grimme-Preis 2012